Plötzlich ist alles anders – Weihnachten 2014

Der  Christbaum  war,  wie  immer,  in  letzter  Minute  fertig geschmückt, ich zog ein schwarzes Kleid an und rannte in die 8 Gehminuten entfernte Kirche, um wie jedes Jahr, im 17 Uhr-Gottesdienst  am  Heiligen  Abend,  die  bekannte Weihnachtsgeschichte (Lukas 2) vorzutragen:

„Es begab sich aber zu der Zeit…“. 

Als ich an die Stelle kam: „Siehe, ich verkündige Euch eine große Freude…“,  dachte  ich:  „Wird  mir  aber  seltsam“.  Mir  wurde urplötzlich so abgrundtief schlecht, wie noch nie in meinen bisherigen 73 Lebensjahren und noch bevor ich mir weitere Gedanken machen konnte, fiel ich um und war bewusstlos.

Ich erwachte in einem Klinikbett, verklebt mit unzähligen Kabeln und umgeben von piepsenden und  flimmernden  Apparaten.  Natürlich  war  mir  sofort  klar,  wo  ich  mich  befand,  aber  nicht warum!

Bei nächster Gelegenheit fragte ich eine Krankenschwester, wie ich hierher kam, die mich mit den  Worten:  „Na  mit  dem  Krankenwagen“  liebevoll  aufklärte.  „Das  hab  ich  mir  schon  fast gedacht“ entgegnete ich ironisch und fragte sie erneut genauer nach dem Grund. „Sie sind in der Kirche mit Herzversagen umgefallen“ erwiderte sie diesmal. „Wie?? Warum? In der Kirche???“ fragte ich ganz erstaunt, aber mehr wusste sie dazu nicht.

Mehr dagegen wussten meine zahlreichen Besucher, durch deren ausführliche Erzählungen ich erfuhr, was passiert war:

Im Rückspiegel seiner Orgel sah der Kantor, dass ich mitten im Satz umfiel, das Lesepult mit mir reißend und kam, zusammen mit einem Chormitglied, von der Orgelempore herunter gestürmt. Zu meinem Glück ist er seit über 30 Jahren ehrenamtlich beim Roten Kreuz tätig, gibt regelmäßig Laienunterricht und wusste sofort, was zu tun ist.

„Keine Atmung! Kein Puls!“ hieß es. 

Aus der Sakristei wurde in Windeseile der AED (automatischer externer Defibrillator) geholt, mir wurde  mein  schwarzes  Kleid  aufgeschnitten,  während  die  Wiederbelebung  schon  in  vollem Gange war und der Notarzt verständigt wurde. „Achtung Schock!“ hallte es wieder und wieder in der Kirche. 

Nach  wenigen  Minuten  trafen  Notarzt  und  Rettungswagen  ein,  von  denen  die  Ersthelfer-Reanimation unmittelbar übernommen wurde. Trotzdem schienen alle Bemühungen umsonst zu sein. Mein Herz wollte  einfach nicht wieder zu schlagen beginnen  und  die Reanimation sollte schon eingestellt werden, als ein erneuter Stromstoß das Kammerflimmern endlich beendete.  Ein schwacher Puls war zu tasten, die Atmung setzte ein.

Schnell  wurde  ich  in  den  Rettungswagen  gebracht  und  in  das  naheliegende  Krankenhaus gebracht.  Doch  das  war  lange  nicht  alles.  Auf  dem  Weg  dorthin  und  während  meines Aufenthaltes auf der Intensivstation, begann mein Herz immer wieder erneut zu flimmern. Mir wurde ein implantierbarer Defibrillator eingebaut, aber dennoch hing mein Leben tagelang an seidenen Fäden:„Selbst wenn Frau Domeyer überleben sollte, wird sie sicherlich einen Schaden davon  tragen“  waren  die  Worte  des  Professors.  Zur  Erholung  meines  Körpers  wurde  das künstliche Koma verlängert.

Als ich irgendwann Anfang Januar auf der Normalstation aufwachte,  erinnerte ich mich an all das nicht. Nur noch an dieses schlimme Unwohlsein, bevor alles seinen Lauf nahm…

Es  begannen  mühevolle  Wochen  der  körperlichen  und  geistigen  Rehabilitation:  Von  Übungen zum Wiedererlangen der Sicherheit beim Gehen, Stehen, Treppensteigen und Radfahren, über Gedächtnis- und Reaktionstraining und logischem Denken bis hin zu psychosozialen Gesprächen. Die Reha war wirklich kein Zuckerschlecken, aber ermöglichte mir Anfang März die Rückkehr in mein normales Leben:

Ich  wohne  wieder  in  meinem  großen  Haus  mit  Garten,  pflege  meine  Katzen,  fahre  Auto  und habe alle meine ehrenamtlichen Tätigkeiten wieder aufnehmen können. Geändert hat sich also nichts,  nur  mein  Kurzzeitgedächtnis  lässt  mich  manchmal  im  Stich,  aber  das  haben  Andere  in meinem  Alter  ja  auch!  Aufschreiben  hilft  gegen  das  Vergessen.  Wozu  hat  man  denn  einen Kalender!?

Und das alles verdanke ich der glücklichen Fügung an diesem Heiligen Abend: zum einen, dass überhaupt  ein  AED  vorhanden  war  und  zum  anderen,  dass  Leute  anwesend  waren,  die  sich damit auskennen.

Ein  paar  Jahre  zuvor  hatte  sich  unser  Kantor  und  ehrenamtlicher  Rettungssanitäter  für  die Anschaffung  eines  AEDs  in  der  Kirche  unserer  Gemeinde  stark  gemacht,  auch  wenn  sich  die meisten der Notwendigkeit nicht so richtig bewusst waren. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich die Erste sein werde, die ihn brauchen wird!

Nun ist der Gemeinde bewusst geworden, wie schnell es zu Ende gehen kann und wie wichtig eine unmittelbare Laien-Reanimation ist.

Ich  wage  gar  nicht  mir  auszumalen,  was wohl  ohne  unseren  Kantor,  den  AED  und  die  Gnade Gottes passiert wäre, an diesem 24.12.2014.